Ich fand das Fläschchen an einem regnerischen Dienstagmorgen. Es lag halb vergraben im Sand eines Kinderspielplatzes in Neukölln, direkt unter einer Schaukel, die sich ganz von selbst bewegte – obwohl kein Wind ging. Das Glas war alt, fast bernsteinfarben, mit einem Korken, der so aussah, als hätte er Geschichten gehört, die man nur bei Vollmond erzählt. Und darin: Gold. Schwebend, wirbelnd, lebendig. Es sah aus wie Melodie in Flüssigform.
Erst später erfuhr ich, wem es gehörte. Einer Frau namens June. Musikerin, Sängerin, Berliner Mythos mit Stimme aus Rauch und Honig. Man hörte von ihr in Spätis, wo ihre Songs auf Mixtapes überlebten. In winzigen Clubs, wo sie manchmal einfach auftauchte, sang, verschwand. Ihre Lieder waren wie Tagträume mit Beat – manchmal nur eine Minute lang, manchmal endlos. Sie mischte Soul mit elektronischem Flüstern, und wenn sie auftrat, war es, als würde Berlin für einen Moment stillhalten.
Und dieses Fläschchen – es war Teil von ihr. Nicht bloß ein Requisit, sondern etwas viel Tieferes. Manche sagen, June habe das Gold selbst „gesungen“. Dass sie eines Nachts mit einem einzigen, glasklaren Ton das Licht eingefangen habe, das zwischen zwei Sekunden lebt. Sie soll gesagt haben: „Manche Melodien kannst du nicht spielen. Die musst du verstecken.“
Warum sie es vergrub? Niemand weiß es. Vielleicht war es Teil eines Albums, das nie erscheinen sollte. Vielleicht war es der Refrain, den niemand hören durfte. Oder der Anfang von etwas Neuem – für jemanden wie mich.
Ich trage das Fläschchen seitdem bei mir. Und merkwürdige Dinge passieren: In stillen Momenten höre ich Töne, die nicht da sind. Worte, die sich selbst singen. Mein Herz schlägt manchmal im Takt eines Songs, den ich nicht kenne – aber erkenne. Als hätte ...

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